„Einsamkeit“
»Die Fähigkeit, allein zu sein« (D. W. Winnicott, 1955) ist eine Entwicklungsanforderung an den Menschen, ein Reifungsschritt. Alleinsein und Einsamkeit sind Preis der Individuation.
Die Existentialität grundsätzlicher Freiheit und Endlichkeit macht einsam. Einsamkeit ist unvermeidlich. »Es gibt sie, weil wir sterben […]. Wie unser Sterben kann unser Leben – mit seinen Lebensentscheidungen – niemand uns abnehmen«. (O. Marquard, 2012)
‚Einsam sein‘ bedeutet ursprünglich auch ‚Eins-Sein‘, ein Sich-Verbunden-Fühlen mit der Welt (Meister Eckhart); Einsamkeit als Zufluchtsort, Quelle der Kreativität und Kultur, Trennzone, Übergangsraum zwischen Individuum und Umwelt, dem Individuellen und Kollektiven, dem Einzelnen und der Gruppe – Ich und Wir.
Zugleich erzeugt Einsamkeit Angst. Das Erleben des Getrennt- und aus der Gemeinschaft Ausgestoßenseins, die Angst, nicht dazu zu gehören, ist Urangst des Menschen (Erich Fromm); Einsamkeit kann Leid erzeugen, krank machen – die Korrelation zwischen Krankheitshäufigkeit und Einsamkeit ist vielfach belegt. Früh ist der Mensch gefordert, das Gefühl der Einsamkeit zu bewältigen, verbunden mit dem Konflikt zwischen entwicklungsfördernden und -hemmenden Lösungen.
»Das Unbehagen in einer überforderten Gesellschaft« (A. Nassehi, 2021), modernen Gesellschaften wie der unsrigen, weist dem Problem der Einsamkeit des Individuums eine wachsende Bedeutung zu – immer mehr Menschen leben allein. Für die einen ist es Erfüllung, andere fühlen sich überfordert und leiden darunter. Ein Ministerium für Einsamkeit – a minister for loneliness – wurde bereits 2018 in Großbritannien ins Leben gerufen, um der gesellschaftlichen, gesundheitspolitischen Bedeutung Rechnung zu tragen.
Die Vortragsreihe versucht der skizzierten, komplexen wie vielseitigen Thematik der Einsamkeit aus psychoanalytischer wie interdisziplinärer Sicht nachzugehen.
Die Referenten:
Dr. phil. Gabriele Junkers
Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin (DPV, IPV), Lehranalytikerin, Supervisorin, Gerontologin in eigener Praxis. Schwerpunkt: Psychoanalyse sowie u. a. auch Beratung und Coaching zu Fragen des Älterwerdens, Organisationsberatung. Langjährige Tätigkeit in stationärer Psychiatrie, Aufbau und Leitung einer gerontopsychiatrischen Rehabilitationsabteilung. Veröffentlichungen zu Psychoanalyse und Psychotherapie im Alter u. a. Klinische Psychologie und Psychosomatik des Alterns (1995) und als Herausgeberin: Is it too late? (2006), Die leere Couch (2010), Psychoanalyse leben und bewahren. Für ein kollegiales Miteinander in psychoanalytischen Institutionen (2022). International tätig für die Europäische Psychoanalytische Föderation und Internationale Psychoanalytische Vereinigung (IPV). Aufbau des psychoanalytischen Ausbildungsinstitutes in Südafrika für die IPV.
Prof. Dr. phil. Christoph Türcke
Professor für Philosophie der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB), emeritiert 2014. Studium der evangelischen Theologie und Philosophie in Göttingen, Tübingen, Zürich und Frankfurt am Main, dort Promotion im Fachbereich Philosophie; Habilitation an der Gesamthochschule Kassel. 1991-93 Gastprofessor für Philosophie an der Universidade Federal do Rio Grande do Sul in Porto Alegre, Brasilien. Lehrbefugnis für Philosophie an der Universität Leipzig. Erster Träger des Sigmund-Freud-Kulturpreises (2009). Autor zahlreicher Bücher u. a. Heimat: Eine Rehabilitierung (2014); Mehr! Philosophie des Geldes (2015); Digitale Gefolgschaft. Auf dem Weg in eine neue Stammesgesellschaft (2019); Natur und Gender. Kritik eines Machbarkeitswahns (2021); Quote, Rasse, Gender(n). Demokratisierung auf Abwegen (2021)
Dr. med. Dr. phil. Peter Bagus
Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalyse. Er studierte neben Humanmedizin u. a. Philosophie, Soziologie, Erziehungswissenschaften und Entwicklungspsychologie. Er ist Gruppenanalytiker und Gruppenlehranalytiker der Deutschen Gesellschaft für Gruppenanalyse und Gruppenpsychotherapie (D3G). Seit 2009 leitet er die Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum Bremen-Ost.
Prof. Dr. med. Michael Ermann
Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker (DPG/IPV), Lehranalytiker. Langjähriger Vorsitzender der DPG. Professor an der Ludwig-Maximilian-Universität in München, emeritiert 2009. 1985-2009 dort Leiter der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik der Psychiatrischen Universitätsklinik. Seit 2009 tätig in eigener Praxis für Psychoanalytische Psychotherapie und Psychosomatische Medizin, Supervision, Coaching und Beratung in Berlin. Zahlreiche Bücher: u. a. Herz und Seele (2005); Identität und Begehren. Zur Psychodynamik der Sexualität (2019); Narzissmus. Vom Mythos zur Psychoanalyse des Selbst (2020); als Publikation z. B.: Globale Ängste und der Umgang mit gemeinsamer Bedrohung (2020), Psychoanalytiker im Alter (2019).
Dr. med. Johannes Döser
Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Psychoanalytiker (DPV/IPV) für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, tätig in eigener Praxis in Essen-Werden. Lehranalytiker, Supervisor und Dozent in der psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft Köln-Düsseldorf. Gruppenanalytiker (D3G), Balintgruppenleiter (DBG). Veröffentlichungen zu klinischen, metapsychologischen, kulturpsychoanalytischen und künstlerischen Themen der Psychoanalyse und ihren Anwendungen.
Psychoanalytikerin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene (DPV/IPV). Lehranalytikerin und Supervisorin (DPV/IPA), Gruppenlehranalytikerin, Leiterin der Weiterbildung Kinder- und Jugendlichenpsychoanalyse der DPV 2006-2019, Leiterin des zentralen Ausbildungsausschusses und Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes der DPV 2004-2010. Niedergelassen seit 30 Jahren in eigener Praxis für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, einzeln und in Gruppen. Zahlreiche Veröffentlichungen zur psychoanalytischen Behandlungstechnik von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, zu Träumen, autistischen Phänomenen, Mutismus und Symbolisierungsstörungen, zur klinischen Gruppenanalyse und zu Gruppenprozessen in Institutionen.