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Vortragsreihe 2024/25

Wunschlos (un)glücklich – zum Verlust des Begehrens in einer überfordernden Gesellschaft

Dem Menschen wird Triebverzicht abverlangt. Ohne dies ist ein Zusammenleben nicht möglich. Die Folge ist zwangsläufig ‚Unbehagen‘ und unerfülltes Begehren. Dies ist Triebkraft kultureller Leistung wie auch kriegerischer Destruktivität.
In einer Zeit kulturellen Wandels von Beziehung, Begehren und Sexualität, der geprägt ist von Dynamiken wie Beschleunigung, Optimierung und Effizienzdruck, drängen sich Fragen auf:
Schwindet das Begehren, bzw. das Vermögen des Menschen, seinen existenziellen Mangel auf der Ebene unbewusster Wünsche zu stillen?
Findet es vermeintliche Befriedigung im grenzenlosen Fließen ungeheurer Warenansammlungen, in Angeboten wie Streaming-, Dating- und Pornoseiten?
Wie ist zu verstehen, dass Glück und Zufriedenheit abzunehmen scheinen, die befriedigende Halbwertszeit von Produkten kleiner wird, psychische Probleme zunehmen, soziale Pathologien wie Sexismus, Radikalismus, Rassismus, Antisemitismus Konjunktur haben?
Die Lebensaufgaben des Menschen wirken überwältigt von einem omnipotenten gesellschaftlichen Versprechen, welches über Slogans wie „Just do it“ in immer schnellerer Taktung den Einzelnen im Begehren ermüden und einem wunschlosen Unglück verfallen lassen.
An die Stelle von ‚Verboten‘, die für S. Freud Ausgangspunkt der Erforschung von Sexualtabus und psychischer Erkrankung waren, ist heute ein Zwang zur Enttabuisierung getreten – das fordernde ‚Gebot‘ nach einem unbegrenzten ‚Mehr‘ an Lust!
Davon ausgehend lässt sich diskutieren, ob gesellschaftlich die Funktion des Dritten erodiert, ein Prozess der schon in der These einer „Vaterlosen Gesellschaft“ (Mitscherlich) skizziert ist. Verbleibt ohne diesen nur ein unstrukturiertes Sehnen nach einem ozeanischen Verschmelzen, welches zu Orientierungslosigkeit und Überforderung führt?
Obwohl auch die Psychoanalyse nicht davor gefeit ist, unter dem Banner der Heilung und Selbstoptimierung zu arbeiten, bleibt doch zu hoffen, dass sie einen Beitrag zum Verständnis der beschriebenen Entwicklungen leisten kann, um ihrem Anspruch gerecht zu werden, individuelles Unglück in ein Allgemeines zu transformieren.

Die Referenten:

Dr. phil. Tove Soiland

Studium der Geschichte und Philosophie in Zürich. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Innsbruck und lehrte an zahlreichen Universitäten. Heutige Arbeitsschwerpunkte sind die Verbindung von Lacanscher Psychoanalyse, Marxismus und Theorien des Totalitarismus. Sie promovierte an der Universität Zürich zu Luce Irigarays Denken der sexuellen Differenz. Sie initiierte den »Gender-Streit«, eine Kontroverse um die theoretischen Grundlagen des Gender-Begriffs. Für das Stadttheater Bern schrieb sie 2009 die Lesung »Nehmen Sie Ihr Gender selbst in die Hand, Madam!«. WS 2016/17 hatte sie die Klara-Marie-Faßbinder Gastprofessur an der Hochschule Ludwigshafen inne. Für ihr feministisches Engagement den Ida Somazzi-Preis (2016). Sie ist Mitherausgeberin der beiden Bände: Postödipale Gesellschaft und Sexuelle Differenz in der postödipalen Gesellschaft (mit M. Frühauf u. A. Hartmann, 2022) sowie Sexuelle Differenz (mit A. Hartmann, 2022).

Aaron Lahl

Studium der Psychologie (MA) an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin (IPU), jetzt wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Psychologischen Hochschule Berlin und in Ausbildung zum psychologischen Psychotherapeuten (AP/TP). Er promoviert zum Thema der Bedeutung von Masturbation und Pornografie in der männlichen Sexualität (IPU). Er ist Redakteur der psychoanalytischen Zeitschrift RISS. Forschungsschwerpunkte sind Masturbation / Pornografie-konsum in der männlichen Sexualität, Psychodynamische Perspektiven auf (Trans-)Geschlechtlichkeit, sowie Kritische Theorie und Psychoanalytische Sozialforschung, mit zahlreichen Veröffentlichungen im Themenfeld von Psychoanalyse, Geschlechter-/Sexualforschung; u. a. Cold War Freud: Psychoanalyse in einem Zeitalter der Katastrophen (mit D. Herzog 2023); s. a. www.psychologische-hochschule.de/forschung-lehre/wissenschaftliche-mitarbeiterinnen/ma-aaron-lahl.

Prof. Dr. phil. Susann Heenen-Wolff

Studium der Pädagogik und Psychologie in Jerusalem, Frankfurt, Paris. Promotion zur Dr. phil. „Über den Niederschlag der Erfahrung von Antisemitismus und Assimilation im Denken von Freud“. Gruppenanalytische Ausbildung am Institut für Gruppenanalyse in Heidelberg; Analytische Ausbildung an der Société Psychanalytique de Paris (IPV); Lehranalytikerin an der Belgischen Gesellschaft für Psychoanalyse (IPV); heute tätig als Psychoanalytikerin in Brüssel in freier Praxis. Professorin emer. für Klinische Psychologie an der Universität von Louvain und der Freien Universität Brüssel in Belgien. Zahlreiche internationale Veröffentlichungen, u. a. als Buch Die wahre Geschichte von Sigmund Freud. Erzählung. (2024); Gegen die Normativität in der Psychoanalyse. Sex, Gender, Technik, Ausbildung (2018); als Artikel Transphänomene – Vorläufige psychoanalytische Überlegungen zu einer veränderten Welt der Geschlechter (Forum d. Psychoanalyse 2023).

Prof. Dr. med. Michael Günter

Studium der Medizin, Kunstgeschichte und Empirischen Kulturwissenschaft in Tübingen, Wien; Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie sowie Psychosomatische Medizin, Psychoanalytiker für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Lehranalytiker (DPV/IPV); bis 2022 Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Klinikum Stuttgart, seitdem Leiter des Instituts für psychiatrisch-psychologische Begutachtung Tübingen – I2PT. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Adoleszenz, Bewältigungsprozesse bei Kindern mit schweren chronischen Erkrankungen, Psychosen im Jugendalter, Psychoanalytische Sozialarbeit, Forensische Kinder- und Jugendpsychiatrie. Co-Herausgeber der Zeitschrift Kinderanalyse. Autor und Herausgeber mehrerer Bücher, u. a.: Therapeutische Erstinterviews mit Kindern. Winnicotts Squiggletechnik in der Praxis (2017); Gewalt entsteht im Kopf (2011).

Prof. Dr. phil. Ilka Quindeau

Studium der Psychologie in Erlangen und Soziologie in Frankfurt a. M., Promotion im Fach Psychologie in Kassel, Habilitation im Fach Soziologie in Flensburg; Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin und Lehranalytikerin (DPV/IPV). Von 2018 bis 2020 Präsidentin der Internationalen Psychoanalytischen Universität in Berlin, seit 2020 als Fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin. Seit 2004 Professorin für Klinische Psychologie und Psychoanalyse an der Frankfurt University of Applied Sciences. Forschungsschwerpunkte sind Geschlechter-, Biographie-,Traumaforschung, sowie Antisemitismus und Erinnerungspolitik. Zahlreiche Veröffentlichungen, u. a. Verführung und Begehren – die psychoanalytische Sexualtheorie nach Freud (2008); Kindliche Sexualität (2012); Sexualität (2014); Psychoanalyse der Männlichkeit (in Vorb. 2024)

Prof. Dr. phil. Benigna Gerisch

Studium der Psychologie und Promotion in Hamburg; zudem Studium der Sprach- und Literaturwissenschaften. Ausbildung als Psychologische Psychotherapeutin, systemische Familientherapeutin und Psychoanalytikerin (DPV/IPV). Bis 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Therapie-Zentrum für Suizidgefährdete am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Seit 2000 tätig in eigener Praxis in Hamburg, seit 2009 Professorin an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin. Forschungsprojekte sind Suizidalität und Geschlechterdifferenz, psychoanalytische Körperkonzepte sowie Körperpraktiken; dazu zahlreiche Publikationen, u. a. Überforderung als neue Normalität. Widersprüche optimierender Lebensführung und ihre Folgen. (et al. 2018); Lost in Perfection – Zur Optimierung von Gesellschaft und Psyche (et al. 2021); Kultureller Wandel von Beziehungen, Begehren und Sexualität. (et. al., 2023), s. a. http://benigna-gerisch.de/